Erinnerungsfeier an den 90. Geburtstag Anne Franks am 12. Juni 2019
Die CD zur “Anne Frank Suite” kann in der Schule (PaperShop oder Sekretariat) für 10 € käuflich erworben werden. Hier steht sie als Download zur Verfügung.
Matthias Gans (Neue Westfälische) schrieb am 12.06.2019:
Darum fand die zentrale Gedenkfeier für Anne Frank in Gütersloh statt
In der Anne-Frank-Gesamtschule findet die zentrale Gedenkveranstaltung zum 90. Geburtstag der Namenspatin statt. Pieter Kohnstam schildert die gemeinsame Zeit
Zeitzeuge Pieter Kohnstam (2.v.l.) mit (v.l.) Patrick Siegele (Anne-Frank-Zentrum), Willemijn van Haaften (niederländische Botschafterin), Bürgermeister Henning Schulz, Roland Thiesbrummel (FB Jugend) und Komponist Helmut Bieler-Wendt. | © Andreas Fruecht
Als Pieter Kohnstam ans Rednerpult tritt, wird es ganz leise im vollbesetzten Forum der Anne-Frank-Gesamtschule (AFS). Der 83-Jährige ist der letzte lebende Mensch, der die Namenspatin der Schule noch persönlich gekannt hat. Sie war seine Babysitterin. Und nun hier an dem Tag zu reden, an dem Anne Frank 90 Jahre alt geworden wäre, hätten sie die Nazis nicht im KZ Bergen-Belsen im Februar 1945 an Typhus und Erschöpfung sterben lassen, das ist auch für den eigens aus den USA angereisten Kohnstam ein bewegender Moment.
Zeitzeuge Pieter Kohnstam war eigens aus den USA zur Gedenkveranstaltung nach Gütersloh gekommen, links Patrick Siegele, Direkter des Anne-Frank-Zentrums Berlin. | © Andreas Frücht
s Schulen haben sich mittlerweile nach dem Mädchen benannt, das 1929 in Frankfurt geboren wurde, 1934 mit der Familie vor den Nazis in die Niederlande flüchtete und an ihrem 13. Geburtstag, im Versteck eines beengten Hinterhauses in Amsterdam begann, Tagebuch zu schreiben. An 250 Schulen begehen 40.000 Schülerinnen und Schüler in diesem Jahr am 12. Juni den Anne-Frank-Tag, einen bundesweiten Aktionstag gegen Antisemitismus und Rassismus. Dass Gütersloh für die zentrale Feier des Berliner Anne-Frank-Zentrums ausgesucht wurde, hat einen bestimmten Grund.
“Anne Franks Botschaft wird an dieser Schule gelebt”
Diesen erläutert dessen Direktor Patrick Siegele damit, dass die AFS seit vielen Jahren in vorbildlicher Weise an Anne Frank erinnere. “Ihre Botschaft wird an dieser Schule gelebt.” Schulleiter Jörg Witteborg hört das mit Stolz. Er überbringt auch die Grüße der Schirmherrin, Altbürgermeisterin Maria Unger. Auch Bürgermeister Henning Schulz würdigt zahlreiche Projekte der Schule, die einen wertvollen Beitrag zur Stadtgeschichte geliefert hätten.
Und wie zur Bestätigung des Gesagten berichten die beiden Schülersprecher Pinar Sarilkan und Timo Güthenke, wie sie an diesem Aktionstag dem Zertifikat als “Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage” gerecht werden wollen: durch Vermittlung der Lebensgeschichte von Anne Frank an die Fünftklässler, durch Auseinandersetzung mit Themen wie fairem Handel, sexueller Vielfalt, Zivilcourage oder Mobbing.
“Symbol für den Kampf gegen Antisemitismus”
Bereits zum dritten Mal nimmt die stellvertretende niederländische Botschafterin an diesem Aktionstag teil. In Gütersloh stellt Willemijn van Haaften die Frage, warum das Tagebuch nach wie fasziniert. Und gibt die Antwort: “Weil es die Fragen Heranwachsender behandelt und Jugendliche sich heute noch damit identifizieren können.” Mit ihrem Tagebuch sei sie nicht nur zum “Symbol für die Opfer des Holocaust” geworden, sondern auch zum “Symbol für den Kampf gegen Antisemitismus”.
Mit Spannung wird vor allem die eigens für den Anlass von Helmut Bieler-Wendt komponierte “Anne Frank-Suite – für das Leben” erwartet. In dem Stück verdichtet der Komponist die Stationen von Annes Leben zu einem musikalischen Bogen, der auch für die Verfolgung und den Tod des Mädchens eindrucksvolle Klänge findet.
Zeitzeuge Pieter Kohnstam erinnert sich mit leiser Stimme
Mit einem fröhlichen “Nigun” sollte das Stück ursprünglich ausklingen, wie Bieler-Wendt erklärt. Doch der weltweit erstarkende Antisemitismus hat ihn dazu bewogen, die Suite mit nachdenklich-dunklen Tönen enden zu lassen. “Erst wenn Hass und Rassismus überwunden sind, kann man dieses Ende streichen”, so der Tonsetzer, der schon öfter für Ensembles der ASF komponiert hat. Die Bläserklasse 7d bringt das schwierige Stück unter der Leitung von Ludwig Stienen beachtlich souverän zur Uraufführung.
CDs mit Aufnahmen des Stückes bekommen Botschafterin und Ehrengast Pieter Kohnstam geschenkt. Dieser ist so beeindruckt von der Musik, dass er sich wünscht, die Bläserklasse würde das Stück auch in Amsterdam, Berlin oder New Yorks Carnegie Hall zur Aufführung bringen.
Dann spricht Kohnstam auf Englisch und mit leiser Stimme von Anne Frank, die damals, obwohl sieben Jahre älter als er, gerne mit ihm gespielt habe, ihm vorlas, oft lachte und in ihren selbst geschriebenen Stücken viel Fantasie bewies. Die sich auch mal ein Kleid seiner Mutter auslieh, weil sie sich wie ein Filmstar geben wollte. Es hört sich fast wie die Schilderung eines normalen Kinderlebens an, wäre da nicht das schreckliche Ende Anne Franks und seine eigene schwierige Flucht über Belgien und Frankreich nach Argentinien und in die USA. Vor dem Festakt hatte Kohnstam dem Jahrgang 12 ausführlich von dieser Zeit berichtet.
“Euer Engagement ist ganz in ihrem Geist”
Dann lobt der 83-Jährige, der noch in Berlin und in Velbert an Schulen sprechen wird, die AFS: “Euer Engagement ist ganz im Geiste Anne Franks.” Und er mahnt, wachsam zu bleiben, Zivilcourage zu zeigen, für eine bunte Welt einzustehen. Denn: “Man kann diese Dinge nicht ungeschehen machen, man kann aber dafür sorgen, dass sie sich nicht wiederholen.” Von einem Mann mit diesem Lebenshintergrund gesprochen, klingt ein solcher Satz gar nicht mehr nach einem für Gedenkveranstaltungen üblicher Allgemeinplatz. Sondern wie eine Verpflichtung, die sich im Alltag noch zu bewähren hat.
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Folgende Redebeiträge wurden auf der Feier gehalten:
Grußwort von Maria Unger
Liebe Schülerinnen und Schüler,
sehr geehrte Herren und Damen,
leider ist es mir heute nicht möglich, den 90. Jahrestag von Anne Franks Geburtstag persönlich mit Ihnen zu begehen. Ich möchte Ihnen aber versichern, dass ich mich sehr geehrt fühle, das Projekt als Schirmherrin über ein Jahr begleiten zu dürfen und freue mich ganz besonders, dass die „Anne-Frank-Suite – für das Leben“ heute hier in der Anne Frank Gesamtschule von der Bläserklasse des Jahrgangs 7 uraufgeführt wird. Ich will nicht verhehlen, dass mir die Anne-Frank-Gesamtschule seit mehr als 20 Jahren ganz besonders am Herzen liegt. Die Botschaft von Anne Frank ist mir auch heute – nach 75 Jahren, seit Anne ihre Gedanken ihrem Tagebuch anvertraut hat – ein ganz besonderes Anliegen.
Auch wenn ich wie Anne Frank stets an das Gute im Menschen glaube, bedarf es doch immer wieder einer Erinnerung für die Zukunft. Menschen müssen und sollen immer wieder daran erinnert werden, dass sie ihr Verhalten stets am Gebot der Nächstenliebe orientieren sollen. Dieser Maßstab gilt aus meiner Sicht für alle Menschen, egal welchen Glaubens oder welcher Weltanschauung sie sich verbunden fühlen.
Wir alle sind aufgerufen, in diesem Sinne den Dialog mit unseren Mitmenschen zu führen. Die Komposition „Anne-Frank-Suite – für das Leben!“ ist dabei ein Mosaikstein, die Botschaft von Anne Frank zur Mitmenschlichkeit zu verbreiten und nicht die Hoffnung aufzugeben. Anne Frank hat uns aufgefordert, auch den Menschen, die um uns herum leben und uns doch nicht kennen, Freude und Nutzen zu bringen.
So lebt die Schule, die den Namen Anne Franks trägt, ihre Verpflichtung ihrer Namenspatronin gegenüber als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ unter anderem mit einem von der Schülervertretung getragenen Projekttag, der mit der heutigen Uraufführung einer zum Geburtstag von Anne Frank geschaffenen Komposition ganz besonders bereichert wird.
Ich möchte der Anne-Frank-Gesamtschule für ihr Projekt, insbesondere dem Initiator und Leiter der Bläserklasse, Herrn Stienen und dem Komponisten, Helmut Bieler-Wendt, für sein gelungenes Werk und allen Sponsoren danken, die diese Musik ermöglicht haben. In diesen Dank schließe ich alle am Projekt Beteiligten im pädagogischen Raum der Schule und das Anne-Frank-Zentrum in Berlin ein.
Ohne ihre zahlreiche finanzielle und tatkräftige Hilfe wäre das Projekt „Anne-Frank-Suite – für das Leben“ kaum so schnell und erfolgreich zu realisieren gewesen.
Hierfür sage ich als Bürgerin unserer Stadt und insbesondere als Schirmherrin sehr herzlichen Dank!
Grußwort des Bürgermeisters Henning Schulz
Sehr geehrter Herr Witteborg,
sehr geehrter Herr Stienen (Projektleiter),
sehr geehrter Herr Bieler-Wendt (Komponist),
sehr geehrter Herr Siegele, sehr geehrter Herr Shapira (Anne-Frank-Zentrum – evtl. nur Herr Siegele),
dear Mr. Kohnstam, dear Mrs.Kohnstam (Zeitzeuge, der Anne Frank kannte, spricht vorwiegend Englisch),
liebe Schulgemeinde,
liebe Gäste,
mir ist es eine große Ehre, aber auch ein persönliches Anliegen, heute zu diesem besonderen Anlass in dieser Schule ein Grußwort der Stadt zu übermitteln. Und gleich zu Beginn darf ich sagen: Wie Sie alle bin auch ich als Bürgermeister dieser Stadt sehr stolz darauf, dass das Anne-Frank-Zentrum Berlin unsere Gütersloher Anne-Frank-Gesamtschule in diesem Jahr für diesen Gedenktag in den Blickpunkt stellt.
90 Jahre wäre Anne Frank in diesem Jahr geworden. Das Mädchen aus Amsterdam durfte aber nur 15 Jahre alt werden, elend zugrunde gegangen ist sie, so wie auch ihre Schwester im Lager Bergen-Belsen. Durch ihr Tagebuch ist sie unsterblich geworden. Ihre Worte, ihre Hoffnung, ihre Gedanken, ihre Art und Weise, sich in der klaustrophobischen Enge des Hinterhaus-Verstecks gedankliche Freiräume zu schaffen, berühren junge wie ältere Menschen auch heute noch gleichermaßen. Sie ist Zeitzeugin und ein Mädchen, das seinem Alter ein wenig voraus ist. Sie ist voller Leben und voller Angst im Bewusstsein der absurden und schrecklichen Situation, in der sie lebt. Mit ihrem schrecklichen Tod im Lager Bergen-Belsen und dem Tagebuch als Erbe hat sie Menschen in der ganzen Welt verbunden, indem sie ihnen durch ihr Leben, ihre Gedanken und die klaren Worte einer Heranwachsenden vor Augen geführt hat, wohin Rassenwahn und Ausgrenzung führen. Auch heute noch werden weltweit Schulen nach ihr benannt, handeln Menschen in aller Welt in ihrem Sinne.
Die Anne-Frank-Gesamtschule ist hier ein herausragendes Beispiel, und auch darauf sind wir hier in Gütersloh stolz. Im Geist von Anne Frank sind von dieser Schule aus Schüleraustausche mit Israel und Palästina organisiert worden. Im Geist von Anne Frank sind Initiativen entstanden, die weit über den Schulalltag hinausgehen und über eine Schulzeit hinweg Bestand haben. Im Geist von Anne Frank haben hier lokalgeschichtliche Projekte Ergebnisse erbracht, die mit Preisen gewürdigt wurden und die einen wertvollen Beitrag zur Stadtgeschichte geleistet haben. Im Geist von Anne Frank sind Zeitzeugen ins Gespräch mit jungen Menschen gekommen und haben aus erster Hand berichtet, was es bedeutet, als junger Mensch ausgegrenzt zu sein, in Lager deportiert zu werden, zu überleben, seine ganze Familie in den Gaskammern der Nationalsozialisten zu verlieren und sich trotz dieser Erfahrungen für ein menschliches Miteinander einzusetzen.
Es ist deshalb ein unschätzbarer Beitrag zum heutigen Tag, dass Sie, lieber Herr Kohnstam, den Schülern und Schülerinnen als Zeitzeuge zur Verfügung stehen. Ihre Erlebnisse, ihre Gefühle, Ihre Perspektive sind durch Bücher, Filme und andere mediale Beiträge nicht zu ersetzen. Wir können nur Danke sagen für das Engagement, wohl wissend welche Kraft ein solcher Einsatz auch erfordert.
Danke sage ich auch dem Komponisten Helmut Bieler-Wendt, der den Auftrag einer Komposition zu diesem 90. Geburtstag angenommen hat. Es ist eine, auf den ersten Blick, ungewöhnliche Art der Würdigung. Eine Verbindung zum Mädchen Anne Frank gibt es auch hier. Denn wir alle, die wir ihre Tagebücher gelesen haben, wissen, dass sie – wie viele ihres Alters – natürlich auch Musik, Filme, Romane und die Geschichten über Stars ihrer Zeit liebte.
Meine Damen und Herren,
Anne Frank heute ist ein Topos der Zeitgeschichte, eine Quelle für historische Forschungen, eine Namensgeberin für Friedensprojekte und Völkerverständigung, eine Mahnung gegen Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung. Doch in einer unvergleichlichen Weise ist sie für uns alle auch das geblieben, was sie so gern hätte sein wollen, wenn ihr die Chance gegeben worden wäre zu überleben: eine junge kluge Frau voller Lebenshunger und voller Pläne. Genau deshalb ist Anne Frank jungen Menschen auch heute noch so nah.
Herzlichen Dank!
Rede von Helmut Bieler-Wendt (Komponist)
Am 12. Juni 2019 hätte Anne Frank ihren neunzigsten Geburtstag feiern können.
Auf die Frage von Lui Stienen, ob ich denn zu diesem Anlass ein Stück für seine Bläserklasse an der Anne Frank Gesamtschule schreiben würde, habe ich – fast ohne Zögern -‚ja‘ gesagt.
F a s t ohne Zögern habe ich ‚ja‘ gesagt und diesen Auftrag, diese Aufgabe angenommen…keine ganz leichte Aufgabe.
Als deutscher Komponist habe ich noch Eltern, welche die Nazi-Ideologie schon mit der Muttermilch eingeflößt bekamen.
Und nun soll und darf i c h eine Musik zum Geburtstag eines Mädchens komponieren, das mit nur 15 Jahren von meinen Vorfahren
– ja, so empfinde ich das – gnadenlos in den Tod geführt worden ist.
Kein Geburtstagsständchen also
– jedenfalls keines der üblichen Sorte.
Erst vier Jahre alt, flüchtete Anne Frank 1933 mit ihrer Familie vor der beginnenden Nazidiktatur in die Niederlande,
wo sie bis 1940 ein relativ unbeschwertes Leben in Amsterdam führen konnten.
1942 waren die Nazis auch in den Niederlanden so mächtig geworden, dass sich die Familie Frank am 06. Juli 1942 im Hinterhaus versteckte.
Am 04. August 1944 wurden sie dort entdeckt, verhaftet und deportiert.
Anne Frank starb mit 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen – wohl an Fleckfieber.
Ihr Vater, Otto Frank, wurde Ende Januar 1945 in Auschwitz von der Sowjetischen Armee befreit.
Er überlebte den Holocaust – als Einziger seiner Familie.
Diese Geschichte bildet den Rahmen meiner Anne Frank Suite mit den Teilen
Introduktion
Kindheit
Flucht
In den Niederlanden
Das Hinterhaus
Verrat und Deportation
Bergen Belsen
Kol Nidre
Nigun
Coda
Ich will ein wenig erzählen, was in den verschiedenen Teilen musikalisch geschieht und was das inhaltlich zu bedeuten hat – als kleinen Wegweiser für das Hören, weil eine so ganz und gar neue Musik heutzutage für viele Menschen nicht mehr so leicht zu verstehen ist.
In der Introduktion, der Einleitung also, zeige ich ein Kompositionsprinzip, das für die ganze Suite bestimmend bleibt. Ich habe dazu eine sehr alte Technik genutzt, bei der die Buchstaben eines Namens, die auch Tonnamen sein können, zum Bau musikalischer Motive genutzt werden.
Beim Namen ‚Anne Frank‘ sind das die Töne a, e, f und wieder a.
Aus diesem Tonvorrat speist sich der Bläsersatz der sechs Takte der Introduktion.
Ihm gegenüber gestellt habe ich in E-Bass und Perkussion die Welt des Faschismus, der sich in den Tönen es und a manifestiert
– klangliches Symbol für die Kampforganisation der NSDAP, die SA, die mit ihrer brutalen Gewalt eine entscheidende Rolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus gespielt hat.
In Kindheit wende ich eine weitere alte Kompositionstechnik an, die der Collage. Da wir wissen, dass Anne Frank die Klassische Musik sehr geliebt hat, verbinden sich hier kurze Ausschnitte aus bekannten klassischen Werken zu einem kompositorischen Mosaik, während im Untergrund bereits die SA rumort.
Mit der Flucht endet Anne Franks unbeschwerte Kindheit, als deren Symbol ich die Sonata facile von Mozart gewählt habe. Sie wird immer zögerlicher, langsamer – übertönt vom Marschtritt der SA.
In die Niederlande führt uns der langsame Aufbau von Albert Lortzings ‚Holzschuhtanz‘ aus der Oper „Zar und Zimmermann“. Mit dem vollständigen Erklingen dieses Tanzmotivs ist die Familie Frank in Amsterdam angekommen – scheinbar in Sicherheit…
Doch der Marschtritt der SA wird stärker und stärker, die Leichtigkeit des Holzschuhtanzes wird brutal zerstört durch das wohl bekannteste Lied der Hitlerjugend, „Unsre Fahne flattert uns voran“. Es erklingt nicht selber, sondern scheint nur in seiner gewalttätigen Aura auf.
Mit einem lauten Knall des Schlagzeugs schließt sich die Tür des Hinterhauses – für 25 lange Monate einzige und letzte Zuflucht der Familie Frank und ihrer Gefährten.
Während im Hintergrund noch leise das Marschieren der Nazis zu vernehmen ist, kreist das Leben der eingeschlossenen Menschen um sich selbst.
Für die Untergetauchten und ihre Helfer habe ich aus den Tonbuchstaben ihrer Namen musikalische Motive komponiert, die umeinander kreisen, sich dabei nur ganz langsam und vorsichtig bewegen und kaum Entwicklungsmöglichkeit haben.
Mit Verrat und Deportation bricht die faschistische Brutalität gnadenlos ins Hinterhaus ein – presto! Schnell, schnell! geht es direkt nach Bergen Belsen.
Ein letztes Mal tief Luft holen – und unter unnachgiebigem Brüllen der Maschinerie erstirbt alles Leben der gefangenen und geschundenen Menschen.
Die Gewalt bleibt, laut und brutal – über den Tod hinaus.
Einzig in der Klarinette wagt sich ein kleines Motiv heraus,
f und a – Otto Frank, auf der Suche nach seiner Familie. Noch weiß er nicht, dass er der einzige Überlebende ist.
Dies kleine, schüttere Motiv trifft auf ein zweites, das von Miep Gies.
Und in der Trauer über Tod und Vernichtung schwingen sich beide auf zum gemeinsamen Gesang des Kol Nidre. Dieser wohl bekannteste jüdische Gesang erklingt am Vorabend des „Jom Kippur“, des Versöhnungsfestes.
Aus seiner Urform, überliefert von Avitall Gerstätter, habe ich eine Trauermusik komponiert, in die sich nach und nach die Stimmen der Ermordeten vorsichtig einflechten, um dann, zunächst noch sehr zurückhaltend, dann aber immer mutiger einen Nigun anzustimmen.
Denn wie Anne Frank geschrieben hat:
„Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen“.
Darum sollte meine Anne Frank Suite schließen mit einem Nigun, einer chassidischen Volksmelodie, die menschliche Seele zu reinigen und zu erheben. Sie steigert sich hin zum freudigen Tanz aller und schlägt so den Bogen zum Motto meiner Suite:
„für das Leben!“
Ach ja:
an dieser Stelle hätte eigentlich mein Stück mit einer relativ positiven, hoffnungsvollen Wendung enden sollen…
aber wir schreiben das Jahr 2019, das Jahr, in dem Anne Frank ihren neunzigsten Geburtstag hätte feiern können…
Rassistisch und neonazistisch orientierte Gruppierungen ziehen hasserfüllt in Deutschland, in Europa wieder durch die Straßen.
Ihre Verführer sitzen bereits in den Parlamenten.
Darum muss meine Suite heute mit einer Coda, einem Schlusssatz, enden:
langsam und bedrohlich.
Wenn wir Hass und Rassismus überwunden haben, dann können die letzten Takte gerne gestrichen werden…
Bis dahin und für alle Zeit gilt:
wehret den Anfängen – nie wieder!
Rede von der stellvertretenden Schülersprecherin Pinar Sarilkan:
Liebe Schulgemeinde, sehr geehrte Gäste, liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,
auch wir, unser Schülersprecher Timo Güthenke und ich, Pinar Sarilkan, als stellvertretende Schülersprecherin, begrüßen Sie und Euch recht herzlich.
Heute möchten wir auf eines unserer wichtigsten Projekte eingehen. Aus verschiedenen Gründen hat sich die Schülervertretung der Anne-Frank-Schule im Jahr 2015 auf den Weg gemacht, eine Schule ohne Rassismus – eine Schule mit Courage zu werden. Dabei waren einige Hürden zu nehmen, die wir aber gerne und mit voller Energie bewältigen konnten. Neben einer gewissen Anzahl an Unterschriften zur Unterstützung des Projektes suchten wir mithilfe eines Videos nach einem Paten. Hierfür konnten wir Esther Bejarano und Kudlu von der Microphone Mafia gewinnen. Zu guter Letzt beinhaltet das Zertifikat „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ eine mindestens jährlich stattfindende Veranstaltung oder ein Projekt zum Thema, auf das ich später noch einmal zu sprechen komme.
Seit Oktober 2017 dürfen wir uns nun „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ nennen.
Eine Schule Ohne Rassismus…
… ist eine Schule ohne das Denken, dass man jemandem überlegen ist.
… ist eine Schule, in der Vielfalt Zuspruch findet.
Denn denkt daran, dass jeder etwas Anderes gut kann.
Eine Schule mit Courage.
… ist eine Schule mit Mut, mit der Einstellung für etwas oder jemanden einzustehen,
… ist eine Schule mit der Einstellung, auch Wagnisse einzugehen.
Und genau so wollen wir an der Anne-Frank-Schule sein!
Wir wollen Vielfalt leben, bewundern, akzeptieren.
Wir wollen unterstützen, helfen, über uns hinauswachsen.
Es ist der Gedanke einer „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, den wir in unseren Schulalltag einbeziehen und den wir als SV unseren Mitschülerinnen und Mitschülern mit auf den Weg geben möchten.
Aus diesem Grund veranstalten wir heute zum bereits dritten Mal unseren
SV-Tag zum Thema „Rassismus und Courage“. Die fünften Klassen lernen an diesem Tag besonders Anne Frank kennen und erfahren ganz viel von ihrem kurzen, aber sehr intensiven Leben.
Für die übrigen Klassenstufen bereiten die Mitglieder der SV ganz verschiedene Workshops vor, die dann klassenübergreifend und somit in gemischten Gruppen von unseren Lehrern aber auch von Externen begleitet werden. Beispiele für diese Workshops sind
- eine Kulinarische Reise, bei der eine Gruppe viele exotische Speisen und Gerichte zubereitet.
- der Workshop „Tanz um die Welt“ , der Schülerinnen und Schüler ebenso mitnimmt in die weite Welt.
Weiterhin kann man sich während dieses Tages mit dem Fairen Handel auseinandersetzen, im Workshop „SCHLAU“ etwas zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt erfahren oder mit den „Helden e.V.“ ein Programm zur Stärkung des Zusammenhalts und der Zivilcourage, das (Cyber-)Mobbing und Rassismus verhindert, durchlaufen.
Die Schülerinnen und Schüler des 12. Jahrgangs sowie der Anne-Frank-AG durften heute Morgen ins Gespräch mit Herrn Kohnstam kommen, von dem Timo Euch und Ihnen jetzt noch weiteres erzählen wird.
Rede des Schülersprechers Timo Güthenke
Die Schülerinnen und Schüler des 12. Jahrgangs sowie der Anne-Frank-AG durften heute Morgen an einer interessanten Lesung und einem Gespräch mit Herrn Pieter Kohnstam teilnehmen.
In dem Gespräch zwischen Herrn Kohnstam und Herrn Siegele vom Anne-Frank-Zentrum wurde uns eindrucksvoll berichtet, welchen Schwierigkeiten sich die Familie Kohnstam auf ihrem langen Weg der Flucht ausgesetzt sah. In den 1930er Jahren brach die Familie von Nürnberg/ Fürth, wo der Großvater der Familie eine große Spielwarenfabrik betrieb, nach Amsterdam auf, um der gefährlichen Situation in Deutschland zu entfliehen. Dort wurde Herr Kohnstam am 18.06.1936 geboren. Als Baby und Kleinkind kam er dort in Kontakt zu Anne Frank, die 7 Jahre älter war und sich, wie Herr Kohnstam heute noch auf Nachfrage eines Schülers fühlt, mütterlich um ihn gekümmert hat. Sie war seine Babysitterin, sie badeten gerne in der Zinkbadewanne im Garten der Familie Kohnstam, spielten gerne Brettspiele zusammen und hatten eine Menge Spaß.
Mit Beginn des 2. Weltkriegs verschärfte sich die Situation der Juden in Europa dramatisch. Im Juni 1942 entschied die Familie Frank, sich zu verstecken, um einer möglichen Verhaftung und Deportation ins Konzentrationslager zu entgehen. Auch die Familie Kohnstam diskutierte diese Option, beschloss aber aus den Niederlanden zu flüchten. Ihre Flucht führte sie über Maastricht, Belgien, verschiedene Stationen in Frankreich nach Barcelona, um von dort aus mit dem Schiff nach Buenos Aires in Argentinien auszureisen.
Über diesen komplizierten Weg berichtete Herr Kohnstam ausführlicher. Angefangen mit der Beschaffung der Zugtickets durch eine Freundin der Familie, um nach Maastricht zu gelangen, hörten wir aus dem Buch „Mut zum Leben“ einen Bericht des Vaters: Am Fluss Cher in Frankreich musste Pieter, nachdem sie sich vor einigen Nazis versteckt hatten, mitansehen, wie ein Schleuserboot, auf dem ein älteres Ehepaar saß, kenterte. „Sie gaben keinen Laut von sich, als sie ertranken. Man hatte ihnen gesagt, sie dürfen kein Geräusch machen.“ Die Familie Kohnstam hatte dabei Glück, dass ihr Schleuser Martin sie heile zum anderen, für sie sicheren Ufer brachte. So gelangte die Familie, wenn auch zeitweise getrennt, da die Mutter beim Übergang nach Spanien verhaftet wurde, überglücklich und nach zwölfmonatiger Flucht nach Argentinien.
Die Nachfragen einiger Schülerinnen und Schüler bezogen sich auf die glücklichen Kontakte, die die Familie machen durfte und mit Hilfe derer sie die Flucht erfolgreich absolvieren konnten. Abschließend appellierte Herr Kohnstam, gefragt nach dem heutigen Erstarken der rechten Parteien, dass wir nicht gleichgültig sein sollen, aufstehen und aktiv werden sollen gegen Rassismus und Ausgrenzung. Eines der besten Beispiele dafür sei bis heute: Anne Frank!