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Der Fachbereich Kultur und Sport der Stadt Gütersloh organisiert im Zeitraum September bis November 2016 eine Reihe von Veranstaltungen zur Frage „Was ist Heimat?“. Ausstellungen, Vorträge, Konzert und Podiumsdiskussion, Schülerwerkstatt und Autorenlesung vereinigen sich zu einem Veranstaltungsstrauß, dessen Ziel es ist Kenntnisse zu vermitteln, Vorurteile zu überwinden, Verständnis zu wecken.

Eine Reihe dieser Veranstaltungen findet in der AFS statt, die als „Schule gegen Rassismus“ nun sicherlich ein sehr geeigneter Ort für den ersten der Vorträge gewesen ist, verbunden mit der Eröffnung der Ausstellung „geflohen, vertrieben – angekommen!? Aspekte der Gewaltmigration im 20. und 21. Jahrhundert“ (die bis zum 16.9.2016 in der Mediothek der AFS zu sehen ist). Den Einführungsvortrag hielt apl. Prof. Dr. Jochen Oltmer, der dem 1991 von Klaus J. Bade gegründeten „Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien“ der Universität Osnabrück angehört, dem einzigen universitären Institut in der Bundesrepublik, das, interdisziplinär angelegt, Migrationsforschung betreibt, – ein Hinweis darauf, dass Migrationsforschung, ganz entgegen ihrer Aktualität, in der akademischen Welt der Bundesrepublik eher ein Nischendasein lebt. Im Gegensatz dazu stand, dass neben dem Bürgermeister der Stadt Gütersloh, Henning Schulz, auch der zuständige Dezernent Jochen Martensmeier, Prof. Dr. Rolf Wischnath als Vertreter des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge sowie Schulleiter Jörg Witteborg anwesend waren. Felix Janßen-Müller wusste mit Auszügen aus Bachschen Cello-Suiten der Veranstaltung eine trefflich ernste Umrahmung zu verleihen.

Bürgermeister Henning Schulz betonte vor allem die Aktualität der Ausstellung, denn Migration bleibe (auch in Deutschland) ein Zukunftsthema und der Umgang mit ihr sei entscheidend für die Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft; er verwies auf die Erfahrungen seiner Eltern- und Großelterngeneration mit den „Flüchtlingen“ (oder als Flüchtling) und betonte die Erfahrungen der Deutschen nach 1945. Rolf Wischnath skizzierte emotionslos-faktisch seine Kindheitserinnerungen an die im Elternhaus einquartierten Flüchtlinge, zu denen keinerlei persönlicher Kontakt bestanden habe, und stellte die auf die aktuelle Situation zielende Frage: „Was tun?“

Jochen Oltmer wies die aktuelle Einzellage in den langen Gang der Gewaltmigrationen im 20. Jahrhundert und machte klar, dass die momentane Situation, gleich, ob global, europäisch oder national betrachtet, durchaus vergleichbar ist mit Vorgängerprozessen und teilweise auch nur Folge dieser Prozesse sei, die spätestens im ersten Weltkrieg ihre Ursächlichkeiten finden. Er unterschied definitorisch zwischen den verschiedenen Ursachen der Migrationsbewegungen: Migration als persönliche (Wohlfahrts-)Chance, als Folge von Gewalt in Form von Flucht, Vertreibung, Deportation, als Folge von Natur- oder Technikkatastrophen: Alle Ursachen zusammen genommen ergeben momentan ca. 20 Millionen Migranten weltweit (bei 8 Milliarden Menschen aber nur ein sehr kleiner Prozentsatz). Er verwies darauf, dass sich seit ca. 1960 (vorher sind valide Zahlen sehr schwer zu errechnen) die Migrationsquantitäten kaum zu- oder abgenommen hätten und dass Migrationen zumeist nur innerhalb der Kontinente stattfänden, auch dass das Phänomen der Binnenmigrationen (Die v.a. momentan in afrikanischen Staaten stattfindet.) zumeist kaum beachtet werde.

Ausführlicher widmete er sich der Gewaltmigration, die zumeist auch allein im Zentrum politisch-gesellschaftlicher Debatten (wie auch der historischen Forschung) steht. Gewaltmigration sei die „Nötigung zur räumlichen Bewegung ohne realistische Alternative“, von staatlichen oder halbstaatlichen Akteuren erzwungen, um staatliche Ziele, Arbeitsrekrutierung, nationale Homogenitätsziele, Herrschaftsstabilisierung zu erreichen. Der Zusammenhang zwischen Nationalgefühl, daraus resultierender Nationalstaatspolitik und daraus wieder folgender Minderheitenausgrenzung bis zur Vertreibung liegt auf der Hand. Beispiele nannte er genug. Kompliziert sei jede Gewaltmigrations-Situation, weil es zwar ein internationales Recht (Genfer Flüchtlingskonvention) gebe, die Umsetzung dieses Rechts aber staatliche Einzelentscheidung in einem immer wieder neu auszuhandelnden politischen einzelstaatlichen Gegenwartsprozess sei (bzw. gewesen sei). Das Ergebnis seien nach Land und Zeit völlig unterschiedliche Praktiken der Aufnahmeregelungen. So finde aktuell in der BRD wieder ein solcher Aushandlungsprozess in der Politik statt.

Abschließend kennzeichnete er die aktuelle Lage in Deutschland seit 2015: Als Folge der „Finanzkrise“ seit 2007 seien 2015 aus deutscher Perspektive drei Änderungen eingetreten: Die unmittelbare räumliche Nähe der Migrationsausgangspunkte zu Europa (Syrien, Nordafrika), die bereits vorhandenen Netzwerke der Migranten in Europa (dort bereits lebende Verwandte und Bekannte), der Wegfall der „Vorfeldsicherungen“: Der „arabische Frühling“ führte dazu, dass die europäischen Leistungen an die dortigen autoritären Staaten, ihrerseits Migranten zurückzuhalten, entfallen sind.

Rolf Wischnaths Frage „Was tun?“ konnte keine Antwort finden, sollte sie auch nicht, aber jeder Zuhörer hatte gleichwohl viele Impulse erhalten, um für sich über Problem und Problemlösungswege nachzudenken, um eine eigene Position zu gewinnen, – vielleicht auch zur weiterführenden Frage: Wann und wodurch ist der Migrant in seiner neuen Gesellschaft kein Migrant mehr?

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