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Still sitzen die Jugendlichen auf ihren Plätzen im Jüdischen Gemeindezentrum in Krakau. Einen polnischen Zeitzeugen sollen sie treffen, einen ehemaligen Häftling des Konzentrationslagers Auschwitz, einen Überlebenden des Holocaust. Wird er verbittert sein? Gar voller Hass auf die, die ihm seine Jugend gestohlen haben und beinahe auch sein Leben? Dann betritt ein freundlich blickender, rüstiger älterer Herr den Raum. Sein stolzes Alter von 95 Jahren merkt man Karol Tendera nicht an. Mit fester Stimme begrüßt er die Gütersloher Schüler, die ihm zu Ehren aufgestanden sind. Die Begrüßungsworte spricht er auf Deutsch, der Sprache derjenigen, die ihm in jungen Jahren so viel Leid zugefügt haben.

Das Zeitzeugengespräch mit Karol Tendera bildete den Abschluss einer Gedenkstättenfahrt von 30 Oberstufenschülern der Anne-Frank-Gesamtschule nach Oświęcim, in jene Stadt, die die Nationalsozialisten Auschwitz nannten und in der sie das Konzentrationslager errichteten, das zum Synonym für den millionenfachen Mord an Juden, Sinti und Roma, polnischen Bürgern, sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen verfolgten Gruppen wurde. Es war eine Reise in die dunkelste Vergangenheit des Landes, in dem die Jugendlichen leben, in dem sie zur Schule gehen und in dem sie glücklich sind.

Die Schülerinnen und Schüler des 12. Jg. sind Teilnehmer der Projektkurse „Erinnern für die Zukunft“. Sie besuchten mit den begleitenden Lehrern Michael Schüthuth und Christian Schiefer die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen „Stammlagers“ des KZ Auschwitz. Fassungslos standen sie dort im Keller des Blocks 11, wo Gefangene zu Tode gequält und die ersten Vergasungen an Kriegsgefangenen und kranken KZ-Insassen durchgeführt wurden. Mit Schrecken hörten sie von den medizinischen Versuchen, die SS-Ärzte – angeblich im Dienste der Wissenschaft – an lebenden Menschen vollzogen. Sie sahen die Berge von Koffern, Kleidungsstücken, Haushaltsgegenständen, die den aus ganz Europa nach Auschwitz deportierten Juden kurz vor ihrem qualvollen Tod in den Gaskammern geraubt wurden.

In Auschwitz-Birkenau, dem eigentlichen Vernichtungslager, standen die Gütersloher Schüler auf der Rampe, wo die SS-Wachleute in unbarmherziger Härte die ankommenden Häftlinge selektierten in jene, die sich zu Tode schuften sollten, und jene, die sofort ermordet wurden. Mit bedrückendem Gefühl gingen sie denselben Weg von der Rampe zu einem der Krematorien, wo vor mehr als siebzig Jahren unzählige Häftlinge auf schreckliche Weise ermordet wurden. Ihre Eindrücke schildert Schülerin Amelie Prochner mit den Worten: „Auschwitz-Birkenau ist eine grausame und unfassbare Wahrheit unserer Geschichte. Darum müssen wir sie sehen und fühlen, auch wenn wir sie nicht verstehen.“ Ihre Mitschülerin Julia Reyes stimmt zu: „Immer wieder liest man: Sechs Millionen Juden wurden durch die Nationalsozialisten ermordet. Durch diese Fahrt wird deutlicher, dass dies nicht nur einfach eine Statistik ist, sondern dass hinter jeder einzelnen Zahl ein persönliches Schicksal steht; ein Mensch, der es verdient gehabt hätte, ein lebenswertes Leben zu führen. Hinter jeder Zahl steckt eine Geschichte!“

Bewegend für die Gruppe aus Gütersloh war die Begegnung mit Karol Tendera, einem der letzten Überlebenden des KZ Auschwitz. Er war gerade 19 Jahre alt, als ihn die deutschen Besatzer von der Schulbank in einem technischen Berufskolleg in Krakau zur Zwangsarbeit in einem Flugzeugwerk nach Hannover verschleppten. Ende 1941 gelang ihm die Flucht und er schlug sich zwei Jahre lang ohne Ausweispapiere durch. Schließlich wurde er 1943 verhaftet und zur Zwangsarbeit nach Breslau gebracht. Wieder floh er, wurde im Januar 1944 erneut verhaftet und nach Auschwitz deportiert: „Mehr als die Hälfte der Häftlinge, die mit mir nach Auschwitz kamen, verstarb innerhalb der ersten beiden Wochen.“

Der Tod umgab Karol Tendera ständig in Auschwitz. Bis heute weiß er nicht, was ihm die SS-Ärzte bei ihren medizinischen Versuchen gespritzt haben. Er berichtet von einem Arbeitseinsatz in der Nähe der Rampe. „Mit Tränen in den Augen habe ich gesehen, wie die Kinder eines Deportationszuges in die Gaskammern getrieben wurden.“ Mehr als einmal habe er mit dem Gedanken gespielt, sich in den elektrischen Zaun zu stürzen, um so seinem Leben ein Ende zu setzen. Zwei Mithäftlingen verdanke er sein Leben: „Als ich in eine der schrecklichen Krankenbaracken kam, hat ein jüdischer Mithäftling dafür gesorgt, dass ich rasch wieder entlassen wurde. Er hat mir heimlich ein fiebersenkendes Mittel beschafft. Sonst hätte ich sicherlich nicht mehr lange überlebt. Ein anderer Häftling hat mich unter Einsatz seines eigenen Lebens vor der Selektion gerettet. Noch heute besuche ich in großer Dankbarkeit Jahr für Jahr das Grab dieses Freundes.“

Die Gütersloher Schüler sind zutiefst berührt und sehr dankbar, dass sie Karol Tendera treffen konnten. „Als er seinen linken Ärmel hochkrempelte und seine eintätowierte Häftlingsnummer 100430 zeigte, stockte mir der Atem“, erklärt Theresa Johanntoberens. Und Leonard Steinbeck fügt hinzu: „Besonders beeindruckt hat mich die Antwort auf meine Frage, ob er gar keinen Groll gegen Deutschland hege. Die heutige Generation sei nicht mehr mit den Nationalsozialisten von damals zu vergleichen. Und daran schloss sich sein Appell an: Geht zu den Wahlen und sorgt dafür, dass die, die Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass predigen, nie mehr etwas zu sagen haben. Diesen Satz werde ich wohl niemals vergessen.“

Geschichtslehrer Michael Schüthuth erklärt: „Wenn überhaupt möglich ist, zu erfassen, was die Nationalsozialisten im Namen ihrer inhumanen Ideologie unschuldigen Menschen angetan haben, dann an diesem Ort, an dem die Topographie des Terrors noch erhalten und für alle sichtbar ist.“ Sein Kollege Christian Schiefer ergänzt: „Auschwitz ist nicht einfach bloß eine Verirrung der Geschichte, sondern vor allem Mahnung für die Zukunft: Hier zeigt sich wie nirgendwo sonst, wohin Rassenhass und Intoleranz führen können.“

Die für alle bewegende Fahrt wurde durch engagierte Mitarbeiter des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) in Dortmund betreut. Die Projektgruppe der Anne-Frank-Schule bedankt sich auch bei der gemeinnützigen Bethe Stiftung, dem Schulverein der Anne-Frank-Schule und den Spendern Evang. Kirchenkreis Gütersloh, Fraueninitiative Die Brücke e.V , Lions Club Gütersloh-Lutteraue, Lions Club Gütersloh-Wiedenbrück, Rotary Stiftung Gütersloh für die finanzielle Unterstützung, ohne die diese Fahrt nicht möglich gewesen wäre. Oberstufenleiterin Marita Kappler: „NS-Gedenkstätten sind als Tatorte, Leidensorte und Orte des Gedenkens bedeutsame Orte des Lernens. Im Rahmen des Projektkurses Erinnern für die Zukunft wollen wir deshalb diese Auschwitzfahrten möglichst jährlich weiterführen.“

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