Liebe Mitglieder der Schulgemeinde, werte Gäste!
Ich wurde gebeten, von der Namengebungsfeier am 3. September 1988 und den Folgen dieser Entscheidung zu berichten – und dabei Frau Gies, die wir Miep Gies nennen durften, zu charakterisieren. Auftrag war nicht, über die Gründung dieser ersten Gesamtschule in Gütersloh, die politischen Prozesse und Pionierjahre zu sprechen.
Im dritten Aufbaujahr entschied die Lehrerkonferenz, der noch „gesichtslosen“ Schule – sie hatte aber bereits 500 Schülerinnen und Schüler – einen Namen zu geben.
In einer denkwürdigen Schulkonferenzsitzung stellten Eltern, Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer durchdacht und engagiert ihre Kandidaten vor, elf an der Zahl. Nach dem Votum der Schule und einem nicht ganz unumstrittenen Prozess entschied sich der Rat der Stadt schließlich für den Namen Anne Frank.
Der sofort eingerichtete Ausschuss von Eltern, Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrer bereitete dann intensiv die für September vorgesehene Namengebungsfeier vor, die von einem qualitätsvollen Begleitprogramm der Stadt ergänzt wurde und die – da das Schulzentrum West keine Aula besaß – in der Turnhalle des Schulzentrums West stattfinden musste.
Normal war es, dass man die organisatorischen Fragen (Rahmen, Ehrengäste, Presseinformationen, Sitzordnung…) sehr gewissenhaft löste, sich Eltern an Programmpunkten (z.B. Lesen von wichtigen Stellen aus dem Tagebuch der Anne Frank) und an der Organisation beteiligten und auch die Schülerschaft Aufgaben übernahm (z.B. Fragen an Miep Gies zu stellen).
Eine große Bereicherung war, dass eine Lehrerin einer anderen Schule, mit jüdischer Kultur besonders vertraut, die Einübung einiger Tänze mit einer Kollegin der Gesamtschule übernahm.
Herr Schäfer vom Gymnasium Halle, Leiter einer Theater-AG, die das bekannte Theaterstück über die Eingeschlossenen im Hinterhaus mit großem Erfolg aufgeführt hatte, war bereit, im Rahmen unserer Veranstaltung eine aussagekräftige Spielszene (Peter und Anne auf dem Dachboden im ernsten Gespräch) anzubieten. Er konnte die beiden Laienspieler Silke Zurmühlen und Ulrich Sasse für diese Aufgabe gewinnen.
Ein Glücksfall ohnegleichen aber war die Teilnahme von Miep Gies an der Feier. Sie las nicht nur, mit klarer Stimme und sehr authentisch, eindrucksvolle Passagen aus „Meine Zeit mit AnneFrank“vor, sondern beantwortete auch, wiederum sehr konzentriert und überzeugend, Schülerfragen z.B. zum Charakter Annes, zur Situation der Eingeschlossenen, zu der riskanten und aufwändigen Lebensmittelbeschaffung, zu Ängsten und kritischen Entwicklungen im Versteck…
Formale Höhepunkte der Namengebungsfeier (Patronin Anne Frank) stellten zwei offizielle Akte dar:
Zum einen die feierliche Enthüllung der Schrifttafel (mit dem freundlich dreinschauenden Mädchen Anne) durch den Herrn Bürgermeister Strothmann. (Heute noch beeindruckend das Foto mit dem Schüler vor dem Text aus dem Tagebuch : „Ich glaube trotz allem an das Gute im Menschen…“ )
Zum anderen das Niederlegen eines Kranzes vor dem Synagogengedenkstein in der Stadtmitte mit dem Ehepaar Gies, Jehuda Barlev, dem letzten überlebenden jüdischen Bürger Güterslohs, weiteren Zeitzeugen und offiziellen Vertretern (Anne-Frank-Haus, Amsterdam).
Diese Namengebungsfeier, von allen Seiten gewürdigt, beseitigte viele Vorurteile über die Gesamtschule und löste eine Reihe von Aktivitäten aus, auf die jetzt – auftragsgemäß – einzugehen ist.
Die Bildungsarbeit bekam selbstverständlich einen neuen Akzent. Verpflichtende Unterrichtsziele wurden die gründliche Auseinandersetzung mit dem Nationalismus, das Kennenlernen des Schicksals Anne Franks (festes Programm für alle 5.Klassen) und der Geschichte der jüdischen Kultusgemeinde Gütersloh und der Kampf gegen Unrecht, Gewalt, Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus…
Aus dieser Sensibilisierung, dem Willen zur Übernahme von Verantwortung, dem Ja zu konkreten Hilfsmaßnahmen erwuchsen prägende Aktivitäten:
Das Riesenengagement der gesamten Schulgemeinde und Teilen der Bevölkerung zur Rettung Ebongswird vielen unvergesslich bleiben. Die Kolleginnen Renate und Hiltraud Moenikes hatten uns auf das Schicksal dieses afrikanischen Jungen aufmerksam gemacht. Ohne Herzoperation war er nicht überlebensfähig. Die Spender brachten 100 000 DM auf, Ebong wurde gerettet.
Ähnlich erfolgreich waren die gewaltigen Kleider-und Lebensmittelhilfsaktionen für kriegsgeschädigte Bewohner Kroatiens und Serbiens (45 Tonnen pro Transport).
Glänzende Inszenierung des gesellschaftskritischen Musicals „Hilfe, die Herdmanns kommen“, die mit dem Namen Winfried Osthues verbunden bleiben wird.
Die „Deutschlandrevue“ (kritischer Rückblick auf deutsche Geschichte 1945 -1994 in selbstgestalteten Szenen, „jugendfrech“ und „höchstkreativ“ ); Regieteam um Robert Bausch – großartige Resonanz.
Diese Linie, nämlich zeitkritische Theateraufführungen und mitreißende Musikveranstaltungen durchzuführen, konnte bis in die Jetztzeit beibehalten werden. Eine Aufzählung aller Produktionen der 30 Jahre ist hier jetzt nicht möglich. Beispiele in dieser Woche sind die Aufführung „Weiter mit dem Wahnsinn“ des Literaturkurses der Jahrgangsstufe 12 über unsere Zeit, die „aus den Fugen ist“ (Leitung: Dr. Bernward Fahlbusch) und das Konzert der Bläserklasse. Eine besondere Erwähnung aber verdient die von Wilfried Limper 1989 gegründete Anne-Frank-Arbeitsgemeinschaft.
Wie allgemein bekannt, entdeckten die neun Schülerinnen und Schüler der AG beim Laubharken auf dem jüdischen Friedhof zwei Kindergräber aus dem Jahre 1946.
Rätselhaft. Die jüdische Gemeinde war ausgelöscht – wie konnte es sein, dass nach dem 2.Weltkrieg hier zwei Kinder beerdigt wurden? Eine zweijährige, bewundernswerte Forschungsarbeit klärte die Zusammenhänge, nämlich die völlig unbekannte Geschichte der 830 überwiegend jüdischen Zwangsarbeiter, die im Sommer 1944 von Auschwitz nach Lippstadt zur sklavenhaften Rüstungsarbeit gebracht und schließlich 1945 in Kaunitz auf einem Todesmarsch von Amerikanern befreit wurden.
Was sich dann aus dieser Entdeckung der AG für die Anne-Frank-Gesamtschule entwickelte, ist mehr als bemerkenswert, man hat mit Recht von einem Dominoeffekt gesprochen:
Die Verschriftlichung der Vorgänge und Forschungswege führte im Rahmen des Wettbewerbes der Körberstiftung zu einem 2.Preis auf Bundesebene. Die Stadt Gütersloh gab eine Dokumentation („Die Kindergräber von Gütersloh“) heraus.
11 ehemalige jüdische Zwangsarbeiterinnen, 1944/45 in Lippstadt gequält und ausgebeutet, wurden 1993 in aller Welt ermittelt und nach Gütersloh eingeladen und stellten sich unseren Schülerinnen und Schülern als Zeitzeugen zur Verfügung. Nach schwierigen Verhandlungen wurde in Kaunitz eine Erinnerungstafel aufgestellt.
Eine weitere Schülergruppe unter Gunar Weykam gestaltete die Ausstellung „Jüdische Lebenswege“, die an verschiedenen Stellen, u.a. im NRW-Landtag, gezeigt wurde.
Die Filmemacherin Lipinska-Leidinger schuf einen vielbeachteten Film über die AG-Leistung und den Besuch der jüdischen Frauen.
Im Zusammenhang mit den Recherchen des Kollegen Jürgen Zimmermann über die generelle Zwangsarbeitersituation im 2. Weltkrieg entstand auf Anregung des Kunstlehrers Gunar Weykam die 2,60 m hohe Bronze-Skulptur der ehemaligen Schülerin Sonja Gerdes. Dieses ausdrucksstarke Kunstwerk wurde 2001 mit tatkräftiger Unterstützung der Stadt Gütersloh an der Stadtbücherei errichtet. 1996 wurde die erste Studienfahrt nach Israel durchführt.
Gemäß dem Motto „Musik verbindet Völker“ gab und gibt es im Musikbereich immer wieder neue Ideen: z.B. Auftragsarbeiten an den Komponisten Helmut Bieler-Wendt „Das Hinterhaus“ und „Hope“ (Zusammenführen arabischer und jüdischer Melodien); Anregungen von Ludwig Stienen, musikalische Realisation: die nimmermüde Gudrun Pollmeier mit der Schulband.
Schülerbezogene Ausstellungen, für Unterrichtszwecke eine große Chance, gibt es auch seit 30 Jahren: die erste, noch in der Hohenzollernstraße „Anne Frank“, die vorletzten „Was heißt hier Frieden?“ und „Die Opfer der NSU“(Michael Schüthuth).
Zurück zum Ausgangspunkt. Herr Limper hat inzwischen mit der Anne-Frank-AG 25 mal Amsterdam aufgesucht. In den ersten Jahren hat es sich Miep Gies nicht nehmen lassen, die Gütersloher Gruppen selbst durch das Anne-Frank-Haus zu führen. Auch nach der Pensionierung führte der von der Stadt ausgezeichnete Kollege zusätzliche Studienfahrten mit ungewöhnlichen Programmen durch. Über 350 Schülerinnen und Schüler haben von seinem Ideenreichtum und Engagement profitiert (siehe auch die Vitrine am Eingang des Forums).
Das muss „unsere“ Miep Gies auch gespürt haben. Einige Male war sie an der Anne-Frank-Gesamtschule und hat, hochbetagt, aber unermüdlich, unseren Schülerinnen und Schülern aus ihrem Leben berichtet.
Dabei wurde uns zweierlei klar:
Ihre Persönlichkeit und ihr Stil faszinierten. Sie war authentisch, blieb natürlich und in sich ruhend, strebte nicht nach Anerkennung und Lob, sie konnte gut zuhören, „hatte eine unkomplizierte und herzliche Art im Umgang mit Menschen“ (Zitat von Susanne Zimmermann), vertrat ihre Meinung deutlich, aber ohne Schärfe, war unerschrocken und forderte– aus einer Besorgnis heraus und mit Nachdruck – Werte ein, die uns, jetzt in besonderem Maße, wichtig sind: Kampf für Demokratie, Abbau von Ungerechtigkeiten, Verwirklichen von Menschenrechten…
Sie hat in den Wirren der deutschen Besatzung der Niederlande das Tagebuch von Anne Frank gerettet. Millionen Menschen haben es gelesen. Es gehört zur Weltliteratur. Das hat mit Gütersloh nur indirekt zu tun!
Die Anne-Frank-Gesamtschule in Gütersloh verdankt Miep Gies die besonders tiefe Identifikation der Schulgemeinde mit der Patronin. Durch Miep Gies Hintergrundinformationen, lebendige Schilderungen der Situation 1942-46, schülernahe, aufrüttelnde Begegnungen wurden Hunderten von Schülerinnen und Schülern Anne und ihre „Mission“ nahegebracht.
Nach meiner Pensionierung, 2002, haben meine Frau und ich Miep Gies in Hoorn besucht. In diesem Zusammenhang erfuhr sie von uns, dass die Anne-Frank-Gesamtschule neben den ihr bekannten Verbindungen zu israelischen Bürgern auch Kontakte mit der palästinensischen Seite aufgenommen hatte und dass den federführenden Kollegiumsmitgliedern, Frau Kappler und Herrn Weykam, ein trilateraler Ansatz vorschwebte , d.h. gleichzeitige Begegnungen von Israelis, Palästinensern und Deutschen mit Erfahrungsaustausch, gemeinsamer Fortbildung und Versöhnungsbemühungen. Sie nahm diese Informationen auf, hatte keine Einwände, konnte aber die Konsequenzen aufgrund dieser wenigen Hinweise kaum einschätzen.
Heute aber wissen wir, dass der Kontakt zur palästinensischen Seite sehr fruchtbar geworden ist. Über 250 Schülerinnen und Schüler der Anne-Frank-Gesamtschule haben an diesem Jugendfriedensprojekt bisher teilgenommen. Sie gewannen ein vertieftes Verständnis für Menschen anderer Herkunft, Kultur und Religion und ein differenziertes Bild über die komplizierte Lage im Nahen Osten. Einige herausragende Veranstaltungen folgten:
1999 nahm eine 12köpfige Lehrergruppe aus Gütersloh Kontakt mit der School of Hope in Ramallah auf.
2002 gemeinsame Fortbildung von Lehrerinnenund Lehrern beider Schulen und die feierliche Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde.
2006 Auszeichnung der Projektarbeit „Mut zum Dialog“.
2015 Auszeichnung Projektwettbewerb (Collagen) „Lebenswirklichkeit in Palästina“.
Die in diesem Zusammenhang genannten Kollegen, ergänzt durch Ludwig Stienen und andere wichtige Persönlichkeiten der Region, gründeten 2004 die Stiftung „Begegnung. Stiftung Deutsch-Palästinensisches Jugendwerk“. Diese verdienstvolle Einrichtung ist aus der schulischen Arbeit erwachsen, aber in ihren Aktionen autonom, fördert aber die pädagogisch-politische Intention der Anne-Frank-Gesamtschule wie zum Beispiel hier im Forum diese aktuelle Ausstellung „Ride for Justice“der Ethnologin und Dokumentarfotografin Anika Machura.
Der Dezernent in Detmold schrieb schon vor 15 Jahren, dass der Name Anne Frank für die Gesamtschule in GT „in besonderem Maße Programm und Verpflichtung war“. Und dieses Urteil gilt wohl bis heute.
Ausgerechnet in diesem Jahre – 30 Jahre nach der Namengebungsfeier – gab ein ehemaliger Kollege der Anne-Frank-Gesamtschule, Jürgen Zimmermann, einen Gedichtband heraus. In ihm finde ich ein ungewöhnliches Gedicht über Anne Frank:
mit nur 14 jahren in bergen-belsen
gestorben worden
schrieb tagnächtlich augenblicke
aus fensterritzen in tagebücher
erotischpolitischsanftgiftige texte
zu dem hinterhofversteck
zuletzt fragend: mensch hitler
wie gefiel ihnen meine gebrochene handschrift?
Die Anne-Frank-Gesamtschule hat ihre Verpflichtungen aus der Namengebungsfeier ernstgenommen und ihre pädagogisch-politische Linie fortgesetzt. Man kann also ein gewisses konsequentes Verhalten feststellen, das Miep Gies offenbar schätzte, als sie 1993 schrieb: „Ich habe viele Schulen in Europa und Amerika besucht, aber so treu wie die Schule in Gütersloh ist keine andere!“