Der Zweite Weltkrieg scheint lange her zu sein, denn fast 73 Jahre sind vergangen, seit Deutschland kapitulierte. Und mit der Zeit, die vergeht, gibt es leider auch immer weniger Zeitzeugen. Umso interessanter und außergewöhnlicher war es, dass der mittlerweile 92-jährige Salomon „Sally“ Perel am 01.März seine Geschichte an unserer Schule erzählte.
Sally Perel, einer der letzten dieser Zeitzeugen, wurde 1926 in Peine geboren. Dort erlebte er zehn schöne Kinderjahre, bis er in seinem dritten Schuljahr von der Schule verwiesen wurde, weil er Jude war. Danach änderte sich sein Leben grundlegend.
Seine Familie flüchtete zunächst mit ihm nach Łódź im damals noch nicht besetzten Polen, wo sie sich ein neues Leben aufbauten, doch auch dieses wurde zerstört, als Deutschland Polen überfiel und einnahm, denn kurz darauf wurden alle jüdischen Einwohner in ein Ghetto umgesiedelt.
Um ihm und seinem Bruder Isaak eine Chance zum Überleben zu geben, schickten Sallys Eltern ihn in den sowjetischen Teil Polens, denn es gab einen Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland.
Beim Abschied sagte ihm sein Vater, er solle nie vergessen, dass er Jude ist, während seine Mutter sagte: „Sally, du sollst leben!“, Worte die ihn noch für den Rest seines Lebens begleiten sollten.
Damals verstand er nicht, dass dieser Abschied bedeutete, dass er seine Eltern nie wiedersehen würde.
Doch die Flucht gelang und er lebte die erste Zeit in einem Waisenhaus; sein Bruder war zu der Zeit schon 30 und lebte daher nicht mehr mit ihm zusammen.
Doch auch dieses Leben nahm ein Ende als deutsche Truppen den sowjetischen Teil Polens überfielen. Alle Einwohner mussten sich in Reihen aufstellen, da überprüft werden sollte, ob sie Juden waren.
Da alle Juden auf der Stelle exekutiert wurden, stellte Sally sich ganz hinten in die letzte Reihe. Er wusste nicht, was er tun sollte und konnte keinen klaren Gedanken fassen, doch er erinnerte sich an die Worte seiner Eltern, daran dass sein Vater zu ihm gesagt hatte, er solle immer jüdisch bleiben und an Gott glauben, und seine Mutter ihm aufgetragen hatte zu überleben.
Ohne einen wirklichen Plan scharrte er ein Loch in den Boden und vergrub seine Ausweise darin. Als er dann an der Reihe war und ihn der Offizier fragte, ob er Jude sei, hatte er die Worte seiner Mutter im Ohr und log gerade heraus. Er gab an, er sei Volksdeutscher.
Zu seinem Glück glaubte der Offizier ihm und überprüfte auch nicht, ob er beschnitten war, und so wurde er zur Armee geschickt. Dort kam er in Schwierigkeiten, als man ihn nach seinem Namen fragte, denn er wusste, wenn er Salomon sagen würde, wäre das sein Todesurteil und so nannte er den ersten Namen, der ihm einfiel: „Josef Perjell“.
In der Armee wurde er als Dolmetscher eingesetzt, da er mittlerweile neben Deutsch und Polnisch auch Russisch sprach. Bald wurde er, unter anderem aufgrund seines jugendlichen Alters, zum Liebling der Soldaten. Aus Angst, jemand könnte bemerken, dass er beschnitten ist, ging er immer nach allen anderen in die Waschräume.
Er unternahm in dieser Zeit an der Front einige Fluchtversuche, die aber alle scheiterten.
Sein Leben änderte sich noch einmal, als er eines Tages er von seinem Befehl habenden Offizier nach Deutschland auf eine Eliteschule für Hitlerjungen versetzt wurde. Dort betrachteten ihn die anderen Jungen als einen Helden, da er schon an der Front gewesen war.
Allerdings musste er auch in den über vier Jahren, die er dort verbrachte, immer neue kreative Wege finden seine Beschneidung zu verstecken. Außerdem war ein zentrales Thema an dieser Schule die Rassenlehre und auch wenn er oft Angst hatte entdeckt zu werden, fing er doch mit der Zeit an an diese Ideologie zu glauben.
In dieser Zeit, so sagt er selbst, habe sich seine Seele zweigeteilt, auf der einen Seite sei er der jüdische Junge Sally gewesen und auf der anderen der überzeugte Hitlerjunge Josef. Er habe sich teilweise selbst gehasst dafür, dass er Jude ist, und an den deutschen Sieg und den Führer Adolf Hitler geglaubt.
Sally Perel gab zu, er sei ehrlich traurig gewesen über die Niederlagen der Deutschen und habe sogar geweint, als er von dem Tod Hitlers erfahren habe.
Als der Krieg vorbei war, gestand er manchen seiner Kameraden aus der Hitlerjugend, dass er Jude sei und viele fragten, wie er es geschafft habe, so überzeugend zu schauspielern. Doch, so bekennt er offen, er habe nicht gespielt, er sei ernsthaft von der Nationalsozialistischen Ideologie überzeugt gewesen.
Nach dem Krieg traf er seinen Bruder Isaak in einem KZ wieder, Sally trug noch die Nazi-Uniform, als er seinem Bruder in Häftlingskleidung begegnete. Er weint noch heute, wenn er den Moment durchlebt, in dem sie sich umarmten. Sein Bruder sagte ihm damals, dass es keine Bedeutung habe, wie er überlebte, nur dass er noch lebte.
Die beiden emigrierten bald darauf nach Israel.
Auch sein Bruder David überlebte den Holocaust, der Rest der Familie aber wurde umgebracht. Vom schrecklichen Schicksal seiner Schwester erfuhr er erst, als er anfing sein Buch zu schreiben, da ihm seine Schwägerin das Trauma über den grauenhaften Tod seiner Schwester ersparen wollte.
40 Jahre hat er gebraucht, bis er bereit war seine Geschichte niederzuschreiben, die Geschichte seines Lebens, in dem er erlebte, was das Sprichwort „Hölle auf Erden“ wirklich bedeutet.
Das entstandene Buch wurde 1992 in Deutschland unter dem Namen „Ich war Hitlerjunge Salomon“ veröffentlicht und und zur gleichen Zeit von Agnieszka Holland mit dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ verfilmt.
Seit einigen Jahren macht Sally Perel regelmäßig Lesungstouren durch Deutschland und erzählt der Nachwelt offen seine Geschichte. Er vertuscht seine Fehler nicht und erzählt so ehrlich wie wohl kein anderer seine Geschichte, denn er ist sich bewusst, er ist einer der letzten, die diese Zeit in so einem Ausmaß wie er erlebt haben.
Daher erzählt er seine Erlebnisse mit dem Ziel uns zu neuen Zeitzeugen zu machen und mit der Bitte das Geschehene nicht zu vergessen und die vergangenen Fehlern nicht zu wiederholen. Dabei sagt er eines deutlich: Uns treffe keine Schuld, doch es sei unser Erbe und unsere Verantwortung daraus zu lernen.
Mich persönlich hat diese Lesung tief berührt, denn so viel man auch über die Zeit des Nationalsozialismus liest oder hört, es ist etwas vollkommen anderes, wenn jemand davon erzählt. Auch wenn ich schon oft mit meinen Großeltern über deren Erfahrungen im Krieg gesprochen habe, waren dies meistens nur Kindheitserinnerungen an etwas weit Entferntes.
Sally Perels Erfahrungen sind aber weitaus drastischer. Für mich ist durch diese Lesung die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges noch einmal viel realer geworden und es hat mich zutiefst beeindruckt, wie jemand, der so ein Trauma durchlebt hat, so offen, ehrlich und real Wildfremden seine Geschichte erzählen kann.
Für mich steht fest – ich kann jedem nur raten das Buch zu lesen oder den Film zu schauen. Und wenn ihr die Möglichkeit bekommt, Sally Perel oder einen anderen Zeitzeugen live zu erleben, nehmt diese Chance war, denn so wenig ihr euch für Geschichte interessieren mögt, so beeindruckend sind solche Lesungen und ihr werdet wahrscheinlich nur einmal in eurem Leben diese Chance geboten bekommen.
Ronja Kuhlmann, Jg.10