Gütersloh. Die Luft in der Mediothek der Anne-Frank-Gesamtschule lässt kurz nach Mittag erahnen, dass bereits einige Stunden intensiver Diskussionen in dem großen Raum stattgefunden haben. Sie besitzt nicht mehr die Frische wie um 9 Uhr an diesem Freitag, als der so genannte „Europadialog“, ein Gesprächsformat der Schule in Kooperation mit der VHS Gütersloh, startete. Lediglich eine Pause hat der minutiöse Ablaufplan bislang vorgesehen, und dennoch wirken die mehr als 50 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 16 und 18 Jahre noch bemerkenswert aufmerksam und konzentriert.
Frontal sitzen in Ingo Stucke (Beisitzer im Vorstand der SPD Ostwestfalen-Lippe und diesjähriger Europakandidat der SPD), Birgit Ernst (Vorsitzende der CDU-Kreistagsfraktion und derzeit Abgeordnete im Europäischen Parlament), Ulrich Klotz (Mitglied im Kreisvorstand der Gütersloher FDP und Europakandidat auf der Landesliste der nordrhein-westfälischen FDP) und Gitte Trostmann (Fraktionssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen und 2. stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt Gütersloh) vier Akteure aus der Europa-Politik auf dem Podium. In den eng gefüllten Stuhlreihen des Plenums erwarten Jugendliche, die fast alle Erstwähler bei der kommenden Europawahl im Juni sein dürfen, Kommentare der Politik-Profis zu Fragen und Vorschlägen, die die Schülerinnen und Schüler an diesem Morgen sorgfältig erarbeitet haben.
Es herrscht eine im besten Sinne distanzlose Atmosphäre. Mariella Gronenthal, stellvertretende Leiterin der VHS Gütersloh, moderiert in lockerem Tonfall. Man steht auf, stellt sich vor, fragt oder antwortet, und nach jedem Wortbeitrag applaudieren alle. Der freundliche, respektvolle Umgang miteinander erinnert etwas an die kommunikativen Formen einer Therapiegruppe. Und irgendwie ist dieses Begegnungsformat nicht allein Dialog, sondern auch wohltuende Therapie gegen leblose TikTok-Algorithmen, die primär auf Klickzahlen hin programmiert sind und oft inhaltsarme Film- und Sprachschnipsel in die Köpfe der Nutzer spülen.
„Fächer sollten lebens- und berufsbezogener sein“
Der Weg bis zu dieser abschließenden Phase der Vorstellung und Kommentierung war lang und präzise abgesteckt. „Nach der Begrüßung und Vorstellung gab es zunächst ein Brainstorming in kleineren Gruppen zu europäischen Themen. Im Plenum wurden dann drei Felder ausgewählt, zu denen anschließend wiederum kleinere Gruppen Probleme, aber auch konkrete Maßnahmen erarbeiteten“, beschreibt Michael Schüthuth den bisherigen Ablauf des Tages.
Der Fachkoordinator für Gesellschaftswissenschaften an der Anne-Frank-Gesamtschule nennt die Felder, für die sich die Jugendlichen entschieden haben: Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bildungs- und Jugendpolitik, Klima- und Verkehrspolitik. Der Pädagoge gesteht: „Ich bin selbst überrascht, dass es nicht Friedens- und Asylpolitik geworden sind. Aber bei der Wahl hat sich gezeigt – die persönliche Betroffenheit der Schülerinnen und Schüler war wohl entscheidend.“
Diese persönliche Erlebniswelt zeigt sich nun auch in den Lösungsvorschlägen der Schülerschaft, die das politische Quartett aufgeschlossen kommentiert. Josef (17) sagt beispielsweise zur Bildungspolitik: „Fächer sollten lebens- und berufsbezogener sein. Ich würde lieber etwas über Steuererklärung erfahren als über den Satz des Pythagoras.“ Bei Ulrich Klotz (FDP) rennt der Schüler „offene Türen ein“: „Du hast recht. Ich habe im Deutschunterricht einmal das deutsche Gesundheitssystem erklärt.“
Hätte die AfD eingeladen werden müssen?
Realitätsbezug sei enorm wichtig, bekräftigt er und bekommt Zustimmung auf dem Podium. Birgit Ernst (CDU), Steuerberaterin, wird später sogar ihre Fachkompetenz in Sachen Steuererklärung anbieten. „Bildungspolitik ist etwas, wo man eine Lanze für Europa brechen kann. Es gibt so viele Möglichkeiten“, sagt sie, fordert aber gleichzeitig – wie das gesamte Quartett – „Selbstständigkeit und Eigeninitiative“ von den Jugendlichen. Gitte Trostmann (Bündnis 90/Die Grünen) ergänzt: „Erkennt, was für euch wichtig ist, und wie euch die Schule dabei fördern kann.“ Und Ingo Stucke (SPD) meißelt seinen Appell schließlich in Worte: „Ihr habt alle Chancen, in Europa Erfahrungen zu machen. Ergreift sie!“ So klingt der positive, erklärende, aber auch fordernde Tenor beim „Europadialog“ bei allen ausgewählten Themenfeldern zwischen der Politik und der Jugend an diesem Tag.
Wer heutzutage allerdings Jugend sagt, muss auch TikTok erwähnen – und landet dann schnell bei der AfD. Die Rechtsaußen-Partei nutzt das Schnipsel-Medium, das gerade bei Jugendlichen bedeutender Info-Kanal ist, versiert für ihre Botschaften. Dort erreicht die AfD laut ZDF mehr als dreimal so viele Nutzer wie alle anderen Parteien im Bundestag zusammen. Experten sagen, dass dies auch Grund für den enormen AfD-Zuspruch von Erstwählern (Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung) bei der Europawahl sei.
So drängt sich die Frage auf, ob man die Partei nicht auch hätte einladen müssen. Michael Schüthuth überlegt kurz, berichtet von einer abgebrochenen Veranstaltung an einer anderen Schule und antwortet: „So etwas soll hier nicht passieren. Es soll um die Sache gehen und besonders um einen respektvollen Umgang miteinander. Wir haben Sorge, dass das mit der AfD nicht funktioniert.“ Mariella Gronenthal wird konkret: „ Es geht um die jungen Menschen. Viele hier haben einen Migrationshintergrund. Sie sollen einen geschützten Kommunikationsraum haben.“ Was würde passieren, wenn plötzlich jemand über Remigration spräche, wirft sie ein.
Also keine AfD. Und kein TikTok. Nur von galliger Rhetorik unberührter Dialog. Ein Lehrstück.
INFORMATION
So sehen drei Schülerinnen den „Europadialog“
Werdet Ihr wählen gehen bei der Europawahl im Juni?
Katharina (17): „Ich will mich vorher nochmal besser über die Parteien informieren. Aber ja. Auf jeden Fall.“
Mila (16): „Ja. Nachdem ich mehr Informationen erhalten habe.“
Madita (17): „Auf jeden Fall. Ich weiß auch schon, welche Partei, ich sag’s aber nicht.“
Hat Euch der „Europadialog“ konkrete Antworten geliefert?
Katharina: „Viele. Am Ende waren für mich die Infos zum Schülerticket – auch wenn das nicht direkt etwas mit Europa zu tun hat – sehr wichtig.“
Mila: „Coole und interessante Antworten und Hinweise – besonders zum Thema Auslandsaufenthalt.“
Madita: „Ich hatte echt viele Fragen, und die wurden fast alle beantwortet.“
Wie habt Ihr die Politikerinnen und Politiker im Dialog erlebt?
Katharina: „Ich habe sie mir rationaler vorgestellt. Der Umgang war sehr natürlich und teilweise sogar lustig.“
Mila: „Man hat gemerkt, dass sie sehr sympathisch sind und ehrliches Interesse – besonders in den Kleingruppen – zeigen.“
Madita: „Ich hatte vorher Sorge, dass die Gespräche verkrampft werden könnten, aber sie liefen regelrecht auf Augenhöhe ab.“
Hätte man die AfD auch einladen sollen?
Katharina: „Als Anne-Frank-Schule kann man nicht wollen, dass eine rechtsextreme Partei hierhin kommt.“
Mila: „Also, ich bin gegen die AfD und finde es gut, dass sie nicht dabei war. Entweder hätte sie sich besser dargestellt, als sie ist. Oder es hätte nicht diesen freundlichen, offenen Umgang miteinander gegeben.“
Madita: „Es ist sehr schwierig, das Richtige zu machen. Ich bin nicht für die AfD, aber man hätte jemanden einladen können. Wir sollten sie vielleicht anhören, sonst sind wir nicht anders als sie.“
Aus: https://www.nw.de/lokal/kreis_guetersloh/guetersloh/23846573_Mit-vielen-Fotos-Guetersloher-Schueler-diskutieren-mit-Politikern-ueber-die-Europawahl.html